Foto: © Marina Ribke

„Wir bauen Organisationen“:
Unternehmens­architektur neu denken

„Enterprise-Architects“ haben einen komplexen Job. Sie gestalten und orchestrieren mehrere Strukturen gleichzeitig – von den Geschäftsprozessen über Applikationen, Daten- und technische Infrastruktur bis hin zu den Anwendungsschnittstellen. Mit dem Wandel klassischer Unternehmen zu digitalen Organisationen müssen auch sie sich verändern. Marina Ribke, „Chefunternehmensarchitektin“ der Exyte Management GmbH und Vordenkerin einer neuen, ganzheitlichen Strategie, sieht sie als Konstrukteurinnen und Konstrukteure agiler und kollaborativer sozio-technischer Systeme.

Veränderungsgeschwindigkeit ermöglichen

„Mit der Digitalisierung stehen Unternehmensarchitekten vor einer zentralen Herausforderung“, erklärt Ribke. „Sie müssen Veränderungsgeschwindigkeit ermöglichen.“ Neue Geschäftsmodelle oder neue Produkte, Dienstleistungen und Geschäftsfähigkeiten haben heute weder lange Vorlaufzeiten noch Bestand für die Ewigkeit. „Das ist längst vorbei“, berichtet die Wirtschaftswissenschaftlerin. In der digitalen Welt müsse ein Unternehmen in der Lage sein, kontinuierlich Neues zu erproben und sich mit seinen Innovationen schnell und flexibel an die Bedürfnisse von Markt und Kunden anzupassen. Das funktioniert nach Ribkes Überzeugung nur, wenn aus Unternehmen, die zentral über Hierarchien, Synergien und Effizienzkriterien gesteuert werden, dezentral organisierte und agile Organisationen mit selbstorganisierten Teams auf Basis gemeinsamer Prinzipien werden.

Es geht um Entkopplung

Für „Enterprise-Architects“ bedeutet dies, dass sie keine monolithischen (technischen) Strukturen mehr schaffen, die im Laufe der Zeit immer komplexer werden und damit flexiblen und schnellen Veränderungen im Wege stehen. Stattdessen gestalten sie aus einer ganzheitlichen Perspektive die Landkarte der strategisch relevanten Geschäftsfähigkeiten, die das Unternehmen anbieten will, kontinuierlich neu. „Im Wesentlichen geht es um Entkopplung“, sagt Ribke. Sie entflechtet Geschäftsprozesse, Daten, Systeme und Infrastrukturen und schneidet das Unternehmen so zu, dass einzelne Teams unabhängig voneinander arbeiten und ihre Geschäftsfähigkeit – zum Beispiel den Wechsel von einer produkt- zu einer kundenorientierten Vertriebsstrategie – eigenverantwortlich vorantreiben können. 

„Je geringer die Abhängigkeit ist, desto klarer wird der Wertbeitrag“, beobachtet die Expertin. Schnittstellen, sogenannte APIs, sorgen in diesem System für die Kommunikation nach außen und den reibungslosen Informationsfluss zwischen den einzelnen Teams.

Digitalstrategien unterstützen

Ribke bezeichnet sich selbst gerne als „Organisationsbauerin“, ihr Team als „Katalysator der Veränderung“. Sie hält nichts von Mikromanagement, sondern sieht ihre Rolle eher als Unterstützerin und „Guide“ durch eine Architektur, die einen flexiblen Handlungsrahmen bieten soll für die Transformation vom klassischen Industrieunternehmen zum digitalen Unternehmen. Denn dieser Wandel umfasst alle Prozesse von der Entwicklung über die Produktion bis hin zum Vertrieb. Er erfordert den Aufbau neuer Fähigkeiten wie beispielsweise die Entwicklung von Produktionsanlagen mittels digitaler Zwillinge, die Umsetzung direkter Vertriebsmodelle oder auch das Agieren in Ökosystemen. Um dies als Unternehmensarchitektin unterstützen zu können, reichen nach Ribkes Überzeugung technologische Kompetenzen nicht mehr aus. Da es letztlich darum gehe, Menschen zu vernetzen, sei Unternehmensarchitektur kein rein technisches Thema mehr, sondern auch ein soziologisches.

Sozio-technische Systeme konstruieren

In der Tech-Ökonomie, so Ribke, müsse man die Organisationsgestaltung, Kommunikation und Architektur sowie die Beziehungen zwischen Menschen und deren Interaktion mit der Technik zusammen denken. „Unsere Disziplin muss den Maschinenraum verlassen und lernen, sozio-technische Systeme zu konstruieren“, betont sie. Ein Mindset, das rein ingenieurgetrieben ist und auf klassische Hierarchien setzt, hilft dabei nicht weiter. Wer Unternehmensarchitekturen kontinuierlich modernisieren will, braucht nach Ribkes Erfahrung den Rückhalt der gesamten Organisation, also eine Unternehmenskultur, die den Paradigmenwechsel unterstützt, der für die Transformation von alten, zentralistischen in agile und offene Strukturen nötig ist.

Interessantes Feld für Frauen

Der Weg dorthin kann steinig sein. Noch immer sind nach Ribkes Angaben fast 100 Prozent der „Enterprise-Architects“ Männer. Das Arbeitsumfeld sei nach wie vor noch hierarchisch „durchgesteuert“ und weitgehend technologiegetrieben. „Das ist eine Organisationsform, die nicht mehr ins Informationszeitalter passt“, findet sie. Mit dem Wandel hin zu einer sozio-technischen Disziplin könne der Beruf aber auch für Frauen „sehr, sehr interessant“ werden, die von den bisherigen Rahmenbedingungen vielleicht abgeschreckt worden seien. In einem Bereich, in dem vor allem Kommunikation, Beziehungsmanagement und Urteilsvermögen über die Auswirkungen technologischer Entwicklungen auf die Gesamtorganisation gefragt sind, könnten Frauen zudem eine große Wirkung entfalten. Ihr eigener Fokus lag übrigens nie auf der Technologie. Mathematik oder eine Naturwissenschaft zu studieren sei ihr nie in den Sinn gekommen, erzählt Ribke. „Mich hat immer die Frage interessiert: Welchen Einfluss hat Technologie auf die Wirtschaft und die Gesellschaft insgesamt und wie treibt sie dort Veränderungen voran?“