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Diversität für die perfekte „User Experience“

Anja Hendel gehört zu den Frontfrauen der Tech-Ökonomie. An der Spitze der Digitalagentur und VW-Tochter diconium treibt sie die digitale Transformation der Automobilindustrie voran. Die 44-jährige Wirtschaftsinformatikerin, die unter anderem das Digital Lab der Porsche AG leitete und für den Pharmagroßhändler Celesio AG (heute McKesson Europe AG) sowie die IT-Beratung Capgemini SE tätig war, wirbt für „Technologiebildung“ von Anfang an und einen diversen Blick auf die Welt.

Wie lange dauert es, um ein Auto zu entwickeln – von der ersten Idee bis zu dem Zeitpunkt, wo es vom Band läuft? Fünf bis sieben Jahre. In dieser Zeit investiert ein Automobilbauer wie VW ein bis zwei Milliarden Euro auf Vorschuss. Denn Geld verdient er mit seinem Produkt erst, wenn er es verkauft. Wie viele Software-Updates lädt der Digitalkonzern Amazon täglich auf seiner Website hoch? 24.000. Das bedeutet, dass er den Quellcode seiner Seite alle 14 Sekunden mit einem einzigen Ziel verändert: die Leistung der Website und damit das Kaufverhalten zu optimieren. Hier prallen zwei Logiken in der Organisations- und Innovationsgestaltung aufeinander.

„Egal, wie ausgereift ein Produkt ist: Sobald es einen Nutzen erfüllt, hat es in der digitalen Welt selbst in der Beta-Version eine Berechtigung.“

Aus alten Strukturen befreien

Auf der einen Seite erleben wir hierzulande eine klassische, ingenieurgetriebene Ökonomie mit linearen, in einzelnen Silos organisierten Prozessen. Sie schafft Weltklasse-Innovationen, hat aber Probleme, sie in die Anwendung zu bringen. Und sie ruht sich auf dem Versprechen aus, Qualität „Made in Germany“ zu liefern. Auf der anderen Seite sehen wir Tech-Unternehmen auf dem deutschen Markt, die Daten und das Wissen, das aus ihnen entsteht, als einen Wert an sich betrachten, den man wirtschaftlich abbilden kann. Diese Unternehmen haben sich aus den alten Strukturen befreit, sie agieren in Netzwerken, verbessern ihre Produkte nahezu in Echtzeit und orientieren sich konsequent an der perfekten „User Experience“. Egal, wie ausgereift ein Produkt ist: Sobald es einen Nutzen erfüllt, hat es in der digitalen Welt selbst in der Beta-Version eine Berechtigung.

Wir brauchen einen vielfältigeren Blick auf die Welt, vor allem darauf, was Fortschritt bedeutet.

Zwei Welten zusammenbringen

Die deutsche Automobilindustrie und Amazon: Sie zeigen auch, dass das Gesetz des US-amerikanischen Informatikers Melvin Edward Conway zutrifft, nach dem jedes Produkt die Kommunikationswege und die Unternehmenskultur der Organisation widerspiegelt, in der es gebaut wird. Wir müssen die zwei Welten zusammenbringen und das Spannungsfeld zwischen Software- und Hardware-Ökonomie auflösen. Mit der riesigen Transformation, die das erfordert, tun wir uns schwer. Auch weil wir gerne an klassischen Geschäftsmodellen festhalten, die immer noch unheimlich viel Geld bringen. Bis es manchmal zu spät ist und wir an einen Wendepunkt kommen, an dem ein komplettes Geschäftsmodell auf den Kopf gestellt wird und manche Produkte schlicht überflüssig werden. Kodak hat das 2012 in die Insolvenz getrieben. Wer hat in der iPhone und Smartphone-Welt noch einen Fotoapparat? Oder einen Taschenrechner oder einen Wecker? Ähnliches steht uns in der Automobilbranche bevor. Die Fahrzeuge der Zukunft werden mit den Autos, wie wir sie heute kennen, wenig zu tun haben – auch wenn sie vielleicht noch wie ein Auto aussehen. Deshalb müssen wir uns anders organisieren und unsere Entscheidungen anders treffen.

„Wir müssen mit der Genderfrage das Feld der technologischen Berufe neu aufrollen.“

Weibliche Fähigkeiten werden gebraucht

Und das bedeutet, dass wir einen vielfältigeren Blick auf die Welt brauchen, vor allem darauf, was Fortschritt bedeutet. Wir brauchen Diversität und Innovationsteams, in denen die Menschen ihre eigene Kontrollzone verlassen, andere Bilder und Welten akzeptieren und genug Zeit haben, um in den Dialog zu kommen. Und wir brauchen mehr Menschen, die diese Jobs machen können und wollen. Das heißt: Wir müssen mit der Genderfrage das Feld der technologischen Berufe neu aufrollen. Das ist schwierig, weil Software nicht sichtbar ist und man die Arbeit dahinter oftmals nicht greifen kann. Ich denke, die größte Herausforderung in der Tech-Ökonomie ist es, transparent zu machen, was unsere Arbeit ausmacht, wie toll unsere Arbeit ist und auch wie divers sie ist. In diesem Feld werden so viele klassische weibliche Fähigkeiten gebraucht. Und wir müssen ein besseres Technologieverständnis aufbauen – schon bei den Kindern in der Schule. Denn wer heute Zukunft gestalten will, muss Technologie begreifen.